Verantwortung, für wen?

19.02.2021

In der Diskussion um die Verfügbarkeit des Impfstoffs gerät manches durcheinander. Auch die Ethik.Deutschland

Die Fakten sind inzwischen klar: Zumindest Großbritannien, Israel und die Vereinigten Staaten sind besser und schneller mit Corona-Impfstoff versorgt worden als die Europäische Union. Da stellt sich unvermeidlich die nüchterne politische Frage, warum dies so ist. Wer trägt die Verantwortung für diesen Missstand?

Merkwürdig ist: Stellt man diese Frage öffentlich, so schallt einem aus vielen Winkeln der Republik sofort ein Vorwurf entgegen. Vereinfacht lautet er: Die Beschaffung und innereuropäische Verteilung des Impfstoffs ist eine Aufgabe der EU. Sie erfordert Solidarität und Rücksichtnahme. Wenn andere im Rennen um Impfstoff schneller und rücksichtsloser waren, dann ist dies ihre Sache. Europa darf sich so nicht verhalten. Das ist eine Frage des zivilisatorischen Selbstverständnisses.

Soweit, so gut. Wirklich? Aus ethischer Sicht trägt jede Regierung eine bestimmte, wohldefinierte Verantwortung. Amtseide nationaler Regierungen werden auf das Wohl jener Bevölkerung geschworen, die eine Nation bewohnen. Es stellen sich deshalb drei Fragen: (1) Entspricht das Ergebnis wirklich diesem Wohl? (2) Wenn nicht, warum nicht? (3) Und schließlich: Wer ist dafür verantwortlich? Diese drei Fragen sind absolut legitim. Mehr als das: Sie sind in einer Demokratie der Kern dessen, was eine kritische politische Auseinandersetzung bedeutet.

Frage 1 ist leicht zu beantworten: Amerikaner, Briten und Israelis stehen besser da als die Europäer – das ist ein Faktum. Frage 2 ist ebenfalls relativ leicht zu beantworten: Sie haben entschlossener, früher und schneller bestellt als die Europäer. Mag sein, dass sie damit, was die Festlegung auf einzelne Impfstoffe betrifft, auch größere Risiken eingingen. Und es mag auch sein, dass sie ihren Steuerzahlern – zumindest auf kurze Sicht – höhere Belastungen zugemutet haben. Aber das heißt im ungünstigsten Fall nur, dass sie mehr Glück hatten. Aber natürlich ist dabei die Frage berechtigt, ob hinter diesem Glück nicht bessere Information, klügere Risikoabwägung und raffinierteres Verhandlungsgeschick standen. Diese Frage muss sich die EU gefallen lassen. Und sie muss Antworten darauf geben.

Frage 3 – die nach der Verantwortung – zeigt schließlich auch und vor allem nach Berlin. Deutschland hatte die Ratspräsidentschaft inne. Die deutsche Regierung hatte also viele Fäden in der Hand oder konnte wenigstens maßgeblich auf die Kommission Einfluss nehmen. Die enorme Bedeutung der Verfügbarkeit von Impfstoff war allen bewusst: für Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft. Was tat also die deutsche Regierung in den kritischen Monaten, als Amerikaner, Briten und Israelis dabei waren, am Markt zuzugreifen, um jene Situation zu verhindern, die wir jetzt erleben? War man zu zögerlich, zu nachlässig oder schlicht zu naiv, um das Problem zu lösen oder gar zu erkennen? Hatte man falsche Informationen aus den Kreisen der Firmen, die Impfstoffe erforschten? Was war da los?

Dies alles sind absolut berechtigte Fragen, und sie sind derzeit unbeantwortet. Sie dürfen nicht mit einem Hinweis auf eine „europäische Ethik“ unterdrückt werden. Ganz im Gegenteil: Eine überzeugende europäische Ethik verlangt, dass Brüssel und vor allem Berlin darauf Antworten geben, und zwar bald.